Zwei Einladungen.

Novellette von Ralph von Rawitz
in: „Leipziger Tageblatt und Anzeiger” vom 04.06.1903


Die Kasernenuhr schlug zwölf, und Exerzierabteilungen der 3. Kompagnie des 2. Garde-Jäger-Bataillons marschierten unter dem Befehl der Oberjäger ab zum Appell und daranschließendem Mittagessen. Die Offiziere sahen einen Augenblick den abrückenden Mannschaften nach und riefen diesem oder jenem Jäger noch einige Schmeicheleien zu:

„Müller II, Tritt! — Paddemann, das Koppel sitzt unter den Knöpfen! Alter Trankopp! Obcrjäger Weber, schreiben Sie den Mann auf!”

Alsdann schüttelten sie sich die Hände und wechselten einige Worte

:„Morjn, Egcrstorff!”

„Morjn Radensleben!”

„Infame Kälte wieder, was?”

„Kälte weniger, aber der Wind, der hier immer über unsere Mauer bläst — wie sagt doch Schiller irgendwo:„Und kalt her bläst es aus dem Wetterloch!”

„Sind wohl gestern im Schauspielhaus gewesen? Etwas schöne Literatur gesimpelt? Mich kriegen keine zehn Pferde hin! Oper lass' ich mir gefallen, wenn sie nicht zu schweres Zeug jeuen, so etwa „Wildschütz” oder „Regimentstochter”, allenfalls auch „Freischütz”, weil der so von unserer Kouleur ist. Aber Schillern oder Goethen — der heilige Hubertus soll mich bewahren!”

„Ja, ja, ich weiß, Radensleben, Sie sind nicht dafür. Uebrigens irren Sie sich, ich war gestern nicht im Theater. Bei Wülfings war eine riesig nette kleine Sache, fünfundzwanzig oder dreißig Menschen. Meistenteils Uniform, einige Herren von den Botschaften, zwei oder drei Ausländer!”

„Holde Weiblichkeit vertreten?”

„Selbstredend, die niedliche Frau von Ruhla ohne Gatten — Ruhla ist in der Eisenbahnabteilung, die haben jetzt mörderlich zu tun —, Frau von Bork, die ewig junge Grevenburg, ein halbes Dutzend Backfische, und last not least: Edith Sampson!”

„Ah, die schöne Amerikanerin!”

„Die gestern schöner als je aussah — ich sage Ihnen, einfach wunderbar, Radensleben!”

„Lieber Himmel! Kein Kunststück, wenn man mehrere Milliönchen Rente zu verzehren hat und seine Roben direkt aus Paris bezieht!”

„Nein, nein, Radensleben, das allein macht's nicht, es muß doch was da sein, und wenn Sie Augen haben, müssen Sie sagen, daß von unseren Schönheiten ihr keine das Wasser reicht. Ueberdies ist sie eine riesig gescheite Person.”

„Nun, das wäre doch ein schöner Coup für Sie, Egerstorff! Ueber den Zuschuß einer siebenziffrigen Jahresrente werden Sic wohl nicht ungehalten sein? Hören Sie mal! Nachher geben sie riesig feine kleine Essen zu dreien, d. h. Frau Gemahlin, Sie und ich — bei dem der Heidsieck wie der Niagara fließt!”

„Schlecker, das könnte Ihnen so gefallen! Glaub' ich wohl! Ist doch merkwürdig, daß der normale preußische Leutnant, wenn er von Millionen hört, sofort an Sekt und Austern denkt! Wäre eine Doktorfrage — psychologisch ober physiologisch zu beleuchten!”

„Das liegt offenbar am miserablen Kasinofraß inklusive Dünnbier oder Moselblümchen — der große Gegensatz! — Aber Sie entschuldigen mich, Egcrstorff — ich muß zum Appell, und da hinten sehe ich schon meinen Kapitän im eifrigen Gespräch mit dem allzeit getreuen Feldwebel Lehmann! — Addio — auf Wiedersehen, Egcrstorff — heute abend im Kasino!”

„Adieu, Radensleben!”

Der junge Offizier verschwand im Hauptportal der Kaserne, der andere verließ den Kasernenhof und schritt nach einem höflichen Gruß an dem Hauptmann von der Becke vorüber auf die Straße. Sonst ein Freund des Großstadtlebens, vermied er heute doch die Hauptverkehrsadern und wählte den Weg durch den Tiergarten, um nach seiner Wohnung in der Hitzigstraße zu gelangen. Sie hatte ersichtlich tiefen Eindruck gemacht, die schöne Tochter der Union, mit ihren klugen, braunen Augen und den raffiniert berechneten Bewegungen; immer wieder flogen seine Gedanken zu ihr hin, er sah sie im Geiste vor sich, wie sie in dem Kostüm aus matter, weißer Seide vor der tiefroten Portière stand, lässig mit dem Fächer spielte und sagte: „Mein Gott, lieber Baron, hier ist es ebenso langweilig wie drüben! Mich zieht nichts nach den States, ich wäre im stande, hier zu bleiben, wenn mich etwas Liebes an Berlin fesselte!”

„Sollte ich ihr gefallen haben”, sagte sich Egerstorff,„oder war die Bemerkung nur Zufall? Im allgemeinen gehen die Amerikanerinnen doch auf etwas Höheres aus, als einen simplen Herrn von So und so, Leutnant bei der Infanterie. Ein Reichsgraf ist sonst das Mindeste, am liebsten aber ein kleiner Prinz aus souveränem Hause, eine Durchlaucht oder gar Hoheit! — Und nun die andere Seite betrachtet — wie steht es denn mit dir, Adelbert Friedrich Heinrich? Könntest du mit ihr glücklich werden?” Ein eleganter näherkommender Wagen weckte den Jägeroffizier aus seinen Sinnen. Eine schöne junge Dame lenkte vom Bock des leichten Gefährts zwei Rappen, deren Geschirr mit glänzendem Silberbeschlag zeigte, daß der Eigentümer wie die Eigentümerin mehr als wohlhabend waren.

„Lupus in Fabula", sagte Egerstorff, halb erschreckt, halb erfreut, „oder vielmehr lupa! Meine Lady in höchsteigener Person!” Dann trat er an den Wagen, dessen Bewegung sofort gemäßigt worden war, als die Dame den Offizier erkannt hatte.

„Guten Tag, meine Gnädige! In solchem Wetter auf der Spazierfahrt?”

„Guten Morgen, Herr Baron! Warum nicht? Wir Amerikanerinnen scheuen kein Wetter und keine Kälte!”

„Wie ist der gestrige Abend bekommen, wenn ich fragen darf?”

„Gut, Herr von Egerstorff — aber langweilig — entsetzlich langweilig war's — nicht? Sehen Sie, Baron, dreißig Menschen, das ist nichts Halbes, nichts Ganzes. Tausend, zweitausend, die große Welt, das macht Vergnügcn — oder auch lieber — zwei!”

„Zwei, Miß Lampson?”

„Ja natürlich zwei, Sie und ich zum Beispiel! Wie charmant ist ein Diner unter vier Augen, nachher eine Cigarette am Kamin, wenn draußen der Regen niederprasselt und wenn es dämmert — —”

„Sie malen das wirklich verführerisch, Miß Edith —!”

„Nun also — kommen Sie — heute! Um sechs — ja? Und dann wollen wir in dieser nordischen Welt von Italien plaudern, das Sie ja auch kennen! — Also ich erwarte Sie — sans gêne — nur meine dame d'honneur, und die schicken wir nachher in die Oper!”

Sie reichte ihm kordial die Hand, schnippte mit der Peitsche und sauste, ehe er noch antworten konnte, mit ihrem Gespann durch die Allee. Kopfschüttelnd sah er dem Wagen nach, der jetzt eben den großen Bellevue-Weg passierte und an einer Gruppe von Offizieren anhielt. Wiederum eine kurze Konversation, Händeschütteln, Grüßen der Herren an der Mütze, Peitschenknall und weiter um die Ecke fort!

„Röhla vom Generalstab, Karzow von den Garde-Ulanen — den Kürassier kenne ich nicht!” sagte Egerstorff zu sich selbst, „vermutlich ein Kriegsakademiker! Alles Bekannte der schönen Miß! Und vermutlich derselbe Dialog, wie mit mir: „Wie geht es, wie steht es? Wo sind Sie gestern gewesen? Wo werden Sie heute sein?” Und vielleicht auch eine Einladung zum Diner unter vier Augen für morgen oder für übermorgen! Und wenn sie in der Hauptallee und am Stern noch jemand trifft, dann wiederholt sich die Scene — und so wird allmählich die ganze Garnison Berlin mit ihr bekannt — — Pfui Deuwel! Schließlich ist das doch nicht das Richtige, wenn ich auch sonst für englische Ungeniertheit und Mädchenerziebung immer geschwärmt habe!”

Der Jägeroffizier schritt seines Weges weiter. Im Hellen Schein der Mittagssonne lag der neue See da. Egerstorff blieb einige Minuten stehen und überschaute die weite Fläche; eine lange Kette von Erinnerungen zog langsam an seiner Seele vorbei. „Das ist zwanzig Jahre her, daß ich hier als Quintaner um ein Haar elendiglich ertrunken wäre, wenn mich ein Schutzmann nicht herausgerissen hätte — wir Jungens waren wirklich zu frech und gingen immer aufs Eis, ehe es noch eine Katze tragen konnte! — Dať ist elf — zwölf Jahre her, daß ich hier als Fähnrich den Galanten spielte und alle die kleinen Mädels aus dem Pensionat in der Regentenstraße verehrte! — Dať ist fünf Jahre her, daß ich die ältere Klausbruch anschwärmte, die nachher den Hannoverschen Husaren genommen hat — Donnerschlag, es fehlte nicht viel, dann hätten wir uns verlobt.” Egerstorff ging weiter. Plötzlich schlug der Klang bekannter Stimmen und helles Lachen an sein Ohr; er wandte sich um, und vor sich sah er acht oder zehn Damen und Herren, die ihn jubelnd begrüßten.

„Guten Tag, meine Damen, guten Tag, meine Herren!” Egerstorff drückte allen Bekannten die Hand und sagte den jungen Mädchen einige verbindliche Worte; zuletzt auch einer niedlichen Blondine in grünem russischem Kostüm:

„Wir haben uns lange nicht gesehen, gnädiges Fräulein!”

„Ich bin vom Herbst ab mit Papa bei meiner Schwester in Hannover gewesen!”

„Darf ich mich nach den Herrschaften erkundigen?”

„Danke! Es geht sehr gut! Mein Schwager ist kürzlich Major geworden! Er hofft über kurz oder lang wieder in dať Allerheiligste am Königsplaz einzuziehen!”

„Ich weiß. Er war ja wohl französische Abteilung?”

„Vier Jahre! Aber er mußte doch wieder in die Front. Er hat die Schwadron zwei Jahre gehabt!”

„Und Sie, gnädigstes Fräulein?”

„Mir geht es sehr gut!”

„Sehen brillant aus!”

„Die frische Luft, das ist alles!”

„Man sieht Sie so wenig in Gesellschaften!”

„Ich komme nicht dazu; morgens habe ich meine Malstunden bei Leistikow —”

„Ja, ich habe gehört — der Meister hält viel von Ihrem Talent! Sie hatten ja auch schon ausgestellt — in der Sezession — wenn ich nicht irre?”

„Ja — eine kleine Havellandschaft — Blick auf Tegelort —!”

„Macht es Ihnen viel Vergnügen?”

„Natürlich, wenn man sieht, daß man Erfolge hat — ich habe das Bild recht gut abgesetzt. Ich muß ja leider”,fügte sie wie entschuldigend hinzu — „durch den Offizier-Verein —”

„Und abends malen Sie auch?”

„Doch nicht! Aber ich komme nicht von Hause weg. Papa leidet so stark an der Gicht, und die Wunde von dazumal schmerzt auch bei wechselndem Wetter — er muß immer jemand um sich haben. Seitdem Martha verheiratet ist, bin ja nur noch ich da!”

Sie sagte das so rührend und unbefangen, daß er ganz ernst und nachdenklich wurde.

„Darf ich Sie bitten, meine Empfehlung dem Herrn Oberstleutnant zu übermitteln?”

„Danke schön! Papa freut sich sehr, wenn er etwas von der Welt hört; wir leben so still. Nur an einigen Abenden in der Woche, wenn uns unsere alten Freunde besuchen, wird es etwas lebhafter. Papa hat noch immer seine alte Whistpartie, Excellenz Falk, Geheimrat Wegner und unseren alten Hausarzt Hazelius. Hin und wieder kommt auch einer der Jüngeren — aber selten!”

„Und mittags machen Sie sich ein wenig frei?”

„Ja, ein kleiner Spaziergang, das ist meine Erholung,von ½1 bis ½2. Und es ist gut, daß ich daran denke, wir essen um 2 Uhr, ich muß heim!”

Sie reichte ihm treuherzig die Hand und sagte: „AufWiedersehen.”

Er ließ das Händchen nicht sogleich los und erwiderte: „Ich habe mir eigentlich schwere Unterlassungssünden vorzuwerfen — darf ich eines Abends mich bei Ihnen ohne Umstände ansagen?”

Sie entzog ihm die Hand und errötete ein wenig.

„Aber natürlich, Herr v. Egerstorff! Wollen Sie heute abend kommen? Um sechs? Heute ist Papas Whistabend — Sie müssen dann freilich mit mir allein vorlieb nehmen — aber das schadet nichts. Offen gestanden, ich bin sehr neugierig, und Sie kommen so viel in der Gesellschaft herum und können mir alles Mögliche erzählen. Wollen Sie?”

„Ganz bestimmt — um sechs!”

Sie nickte freundlich und er klappte die Absätze zusammen.

Er sah ihr noch eine Weile nach, wie sie mit ruhigen und gemessenen Bewegungen am See entlang ging, nicht hastig und doch nicht langsam, selbstbewußt und doch kindlich-bescheiden. Ein freundliches Lächeln verschönte sein offenes Gesicht und mit dem Kopf beifällig nickend, sagte er:

„Deutsches Offizierblut! Good bye Jung Amerika!”

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